Depression

Mein inneres Kind weint

Girl with teddy bear

Es gibt Dinge in unserem Leben, vor denen fürchten wir uns am Allermeisten. Es gibt die Schlangenphobie. Die Spinnenphobie. Meine Freundin reagiert phobisch auf Holzlöffel und meine Mama hat Angst vor Mäusen. Ich habe Angst vor Autoritäten. Vor Menschen mit Macht.

Als Kind sollst Du gehorchen.

Meine Oma hat Macht. Sie besitzt Macht über mich und sie streitet gerne. Eigentlich ist sie nur eine alte Frau, aber mein inneres Kind hat Angst vor ihr. Deswegen bin ich ein Leben lang gekuscht und habe IHR Leben geführt. Meine Großeltern haben meine Erziehung übernommen und damals gab es nur EINE Wahrheit. SIE haben für mich entschieden. Welche Freunde ich treffe, wie ich mich kleiden sollte und wie ich meine Freizeit gestalte. Dem zu gehorchen war der Weg des geringsten Widerstandes. Und irgendwann habe ich den Absprung verpasst. Ich kann mich erinnern, dass mir mit Ende 20 einmal eine selbstbewusste Antwort gegenüber meiner Oma rausrutschte. Ich sagte zu ihr: „Dir kann man es nicht recht machen.“ Darauf sprach Sie eine ganze Woche nicht mit mir, machte mich in der Familie schlecht und jedes Mal, wenn wir uns begegneten, erstach sie mich mit ihrem gestochen scharfen Schwertblick. Bis heute weiß meine Oma, eine Ex-Raucherin, nicht, dass ich ab und zu mal heimlich eine paffe. Ich bin 30 Jahre alt.

Das verwöhnte Enkelkind.

Für die anderen sieben Enkel bin ich das verwöhnte Enkelkind. Die, die immer alles von Oma und Opa bekommen hat. Ein Hund, ein Pferd, ein Auto!

Den Hund hat der Opa eigenhändig erhängt, nachdem er ihn mir aus meinen 6-jährigen Händen entrissen hat. Er hatte sich ein paar Mal mit seinem Hund gebissen. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Den leblosen Hundekadaver fand ich nach einem kurzen aufheulen tot auf unserem Misthaufen.

Das Pferd, das eigentlich nie mein Pferd war, war ein Druckmittel. Man wollte so die Pubertät unterjochen. Ich war nie das Pferdemädchen, aber wenn Oma und Opa ein Pferdemädchen haben wollen, dann soll es so sein. Und natürlich liebte ich dieses Pferd. So, wie ich alle Tiere liebte. Ich war aufopferungsvoll. Aber es war nicht genug. Ich erinnere mich an Sätze wie: „Kümmere dich um die Pferd.“ „Was dein Pferd uns kostet.“ „Reite lieber statt dich rumzutreiben.“ Später wollt ich „Mein Pferd“ in die Nähe holen, in der ich wohnte. „Du kannst dem Opa nicht das Pferd wegnehmen“ kam es aus dem Mund meiner Oma. Kurz darauf starb das Tier. Und damit auch das Druckmittel. Ich war traurig, aber frei. Frei am anderen Ende Deutschlands. Bis zum Tag des Autokaufes.

Dankbar bis an mein Lebensende, schuldbewusst und demütig.

„Schenken wir dem Kind ein Auto, dann kann sie uns besser besuchen.“ Ich wollte dieses Auto nie. Ich wollte Autonomie! Das Auto kam und damit der Druck. „Melde dich.“ „Besuch uns.“ „Fahr uns hier und dort hin.“ „Fahr mit uns in den Urlaub.“ „Mach dies, mach das.“ „Sei so und so.“ „Lass dich blicken.“ Und das machte ich auch. Ich war ein Familienmensch, denn ich hatte das so gelernt. Mit Anstand ehrte ich meine Großeltern. Ich war dankbar. Dankbar bis an mein Lebensende, schuldbewusst und demütig. So verbog ich mich und machte es ihnen recht. Ich führte ihr Leben, nicht meines.

Das war der Preis, den keiner der Enkel zahlen wollte. Und ich war in der Maschinerie und konnte es nicht ändern. Denn etwas zu ändern, dass 30 Jahre funktioniert hat, bringt Reiberei ins Getriebe. „Wechsle die Kette immer mit dem Zahnkranz!“, heißt es in meiner Fahrradgang. Ich war die Kette, meine Großeltern zeigten mir die Zähne.

Viele Menschen ändern sich in der Therapie und das gefällt einigen Angehörigen gar nicht.

Ich wechselte meine Kette zusammen mit meiner Therapeutin. Langsam und allmählich, Glied für Glied. Im Kampf gegen meine Depression erzählte mir meine Therapeutin:„Viele Menschen ändern sich in der Therapie und das gefällt einigen Angehörigen gar nicht“.

Ich versuchte meine Meinung, in Frieden und mit guten und ruhigen Argumenten, meinen Großeltern gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Noch bevor ich sprach, überlegte ich mir meine Sätze und spürte immer wieder in meinen Bauch hinein. Ich war gewillt, eine gute Enkelin zu sein, aber vor allem wollte ich mein Leben leben und ein Gleichgewicht in diese Beziehung zu bekommen.

Mein inneres Kind weint und meine Oma hat Mundgeruch.

Und da war er wieder. Dieser besondere Moment. Der Aufprall mit meinem Endgegner. Der Konflikt mit einer Autorität. Die OMAcht. Und jetzt sitze ich hier in Gestalt meines inneren Kindes und bin wieder ganz klein und verletzlich. Während SIE einen üblen Mundgeruch hat, weil sie die dreckigsten Ausdrücke in den Mund genommen hat, die sie in ihrem Jargon finden konnte, wische ich mir unter Tränen ihre Fäkalien aus dem Gesicht. Mein Mund ist clean. Mein Herz ist rein.

Ich war mir eine Mutter und habe mich an die Hand genommen. Dabei habe ich Dinge formuliert, die sich mein inneres Kind nicht getraut hätte. Ich habe Ungerechtes angesprochen und war erwachsen. Sie wurde lauter. Ich wurde leiser. Sie wurde aggressiver. Ich wurde bestimmter. Sie wurde gemeiner. Ich wurde entschlossener. Ich bin in diesem Moment traurig, verletzt und verzweifelt. Langfristig aber habe ich ein Signal gesetzt. Ich bin für mich selbst aufgestanden und habe mich behauptet. Zu lange habe ich ihr diese Bühne gegeben, um ihre Macht auszuspielen.

DU gibst den Menschen ihre Macht.

Wir entscheiden, wem wir Macht geben und ob wir überhaupt jemandem Macht geben. Wir entscheiden, wen wir durch unsere Tür lassen und wer uns direkt ins Herz treffen kann. Ich hatte diese Tür viele Jahre weit geöffnet. Sie spazierte mit ihrer bösen spitzen Zunge durch diese Tür und penetrierte mich. Ich fühlte mich hilflos. Ich war ihr Opfer. Heute baue ich mir eine Tür und lasse sie nur noch an meinem Ausgang lecken. Ich bin für sie gestorben, sagte sie. ICH wiederum hasse SIE nicht. Ihre Reaktion hat mir zudem viel über sie selbst erzählt. Sie ist über 80 Jahre alt, hat aber noch nicht verstanden, WAS Liebe ist und dass man Liebe mit Geld und Macht nicht kaufen kann.

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2 comments

  1. Vielen Dank für deine offenen Worte! Ich habe deinen Blogg entdeckt, weil du auf Insta einen Beitrag von mir gelikt hast. Ich erkenne mich in vielen deiner Texte wieder und kann ehrlich gesagt gar nicht mehr aufhören zu lesen ☺️ Ganz wunderbar deine Art zu schreiben!! Dieser Text hat mich so sehr berührt und aufgewühlt! Meine Schwiegereltern funktionieren nämlich auch nach diesem „Prinzip“. Leider kann ich meine Kinder nicht davor schützen. Meine große Tochter (15) hat mittlerweile den Kontakt mit ihnen abgebrochen. Zu groß sind die Verletzungen, die sie ihr zugefügt haben. Sicher mit ein Grund, dass sie so schlimm erkrankt ist (Anorexie). Und sie? Sie haben es noch immer nicht verstanden ?‍♀️ Sie werden es in diesem Leben auch nicht mehr verstehen.
    Ich danke dir! Ganz liebe Grüße, Silvia

    1. Hallo Silvia, wie schön, dass Du den Blog magst. Den Text habe ich eine halbe Stunde, nachdem der Crash passierte, geschrieben. Deine Tochter macht das genau richtig. Kein Mensch muss ständig in den Löwenkäfig gehen, wenn er immer wieder gebissen wird. Es spielt auch keine Rolle, ob es Familie ist oder nicht. Sie muss sich schützen. Und dazu gehört, dass sie sich abgrenzt. Sich immer wieder eine verbale Wunde zuziehen, hat auch was von Selbstverletzung. Jetzt bestraft sie sich selbst, obwohl sie eigentlich das Opfer ist. Das Gute ist, wenn sie erst einmal hinter die Technik solcher Menschen gekommen ist, wird ihr sowas in ihrem Leben nie nie wieder passieren. Dann ist sie stark. Und weiß sich bei solchen Menschen zu helfen. Vielleicht kannst Du ihr zeigen, dass Du zu ihr stehst. Für mich war es das Wichtigste, dass meine Mutter in dieser Zeit auch meiner Oma gegenüber klar gemacht hat, dass sie eindeutig Stellung bezieht. Danke, dass auch Du Deine Geschichte geteilt hast. Ich schicke Euch ganz viel Kraft!

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